Naturalismus

Ähnlich wie Materialismus, Realismus oder Physikalismus behauptet der Naturalismus, dass alles, was ist, natürliche Ursachen hat. Der Begriff der Natur ist dabei erstaunlich wenig reflektiert, vielmehr geht es beim Naturalismus um um die Naturwissenschaften, denen allein legitimer Erkenntnisgewinn zugebilligt wird. Wenn es beispielsweise in einem alten Gemäuer unheimliche Klopfgeräusche zu hören gibt, so ist das nicht das Spukgespenst, das sein Unwesen treibt, sondern schlicht der Wind, der einen Ast gegen ein Fenster weht. Und die Welt ist nicht von Gott erschaffen, sondern ganz profan aus dem Urknall infolge einer Fluktuation im Quanten-Kontinuum entstanden. Religion und Philosophie braucht man nicht, einzig die Naturwissenschaften geben verlässlich darüber Auskunft, wie die Welt beschaffen ist.

Inhaltlich geht der Naturalismus davon aus, dass es überall in der Welt mit rechten Dingen - realistisch - zugeht und methodologisch werden nach dem Sparsamkeitsprinzip bzw. aus Gründen der Denkökonomie unter allen Theorien und Hypothesen die einfachsten bevorzugt. Für Theologie oder Philosophie ist da kein Platz mehr. Der Anspruch des Naturalismus ist universal, alles wird naturalisiert. Sprich: In den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften gestellt. Der Naturalismus entwirft ein Weltbild - zu dem auch der Mensch, sein Denken, moralisches Handeln oder wissenschaftliches Forschen gehören. Doch wie kommt man überhaupt auf solche Ideen? Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung sind das jedenfalls nicht. So sehr sich der Naturalismus metaphysik- bzw. philosophiefeindlich gibt, so sehr ist er bei näherem Hinsehen eine einzige Metaphysik, ein Weltbild oder eine Weltdeutung.

Dem Realismus nahestehend, nimmt der Naturalismus eine bewusstseinsunabhängige, strukturierte und zusammenhängende Welt an. Eine Welt ohne Menschen ist denkbar, nicht aber Menschen ohne einer materiellen Welt. Er fordert soviel Realismus und daraus folgend soviel Objektivität wie möglich. Doch angesichts von Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften wie Relativitätstheorie oder Quantenphysik lassen sich die geforderten Ideale einer bewusstseinsunabhängigen Realität und der Objektivität kaum noch aufrechterhalten. In der Relativitätstheorie hängen Längen, Krümmung, Gravitation vom Beobachter, genauer von der Geschwindigkeit des Beobachters, ab. In der Quantentheorie gibt es keine objektiv feststellbaren Zustände ohne Messung. Erst durch die (subjektive) Messung entsteht gewissermaßen (objektive) Realität.

Große Probleme hat der Naturalismus mit dem Phänomen des Geistes. Eine zufriedenstellende Erklärung, wie unbelebte Materie jemals Bewusstsein hervorbringen soll und dieses Bewusstsein dann wiederum Einfluss auf Materie nehmen soll - ich beispielsweise willentlich einen Finger oder die ganze Hand heben kann - bleibt der Naturalismus schuldig. Sind es herumwackelnde Elektronen in den Nervenzellen im Gehirn, die Geist hervorbringen? Dann hat vielleicht auch ein Computer Bewusstsein und Gefühle. Die Theologie und Philosophie kennt dieses Problem schon länger als Leib-Seele-Problem.

Aus theologischer Perspektive stellt der strenge Monismus des Naturalsimus eine Herausforderung dar. Neben dieser einen materiellen Welt gibt es nach Auffassung des Naturalismus keine göttliche oder wie immer geartete Realität - und schon gar nicht, solange sie sich nicht naturwissenschaftlich fassbar durch Interaktionen bemerkbar macht. Mit einem strengen Supranaturalismus - da oben Gott, da unten Welt - fühlen sich aber viele Theologinnen und Theologen heute auch nicht mehr wohl. Es gibt zahlreiche Versuche, das Verhältnis von Gott und Welt neu zu bestimmen.

Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann etwa betont die gemeinsame Geschichte von Welt und Gott. Schöpfung ist kein abgeschlossener, sondern ein noch offener Prozess. Ziel der Schöpfung ist das Einwohnen Gottes in der neuen Schöpfung. Gott steht seiner Schöpfung nicht einfach gegenüber, er geht mit seiner Herrlichkeit in seine Schöpfung ein, so dass er alles durchdringt.

In der Prozessphilosophie Whiteheads und in der Prozesstheologie gehören Weltprozess und werdender Gott zusammen. Gott ist der Welt gegenüber transzendent und immanent, genauso wie die Welt Gott gegenüber transzendent und immanent ist. Gott genießt mit seinen Geschöpfen und Gott leidet mit seinen Geschöpfen. Keine Rede mehr von einem unbewegten Beweger. Gott und Welt bereichern einander.

Die vor einigen Jahren verstorbene protestantische feministische Theologin Dorothee Sölle spricht gar vom Ende des Theismus. Theismus in dem Sinn, dass Got als höchstes Wesen an der Spitze der Pyramide des Seins vorgestellt wird. In der Bibel findet sie keine Hinweise auf einen unwandelbaren, unendlichen, leidensunfähigen, allwissenden und allmächtigen Gott wie in der griechischen Philosophie. Vielmehr bleibt Gott ein unendliches Geheimnis. Anstatt in Lehrsätzen über Gott zu reden, wäre es besser, wie in der Bibel in Form von Erzählungen und Gebeten zu Gott zu sprechen.

Analog dem Verhältnis von Welt und Gott ist auch das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften neu zu bestimmen - das ja bekanntlich in der Vergangenheit nicht immer das beste war. Haben sich früher oft Theologen zu naturwissenschaftlichen Fragen - mit theologischen Methoden - geäußert, äußern sich heute oft Naturwissenschaftler - mit ihren naturwissenschaftlichen Methoden - zu theologischen Fragen. Positiv aufgreifen aus dem Programm des Naturalismus könnte die Theologie das Ernstnehmen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Interdisziplinarität und die Auseinandersetzung mit den Naturwisenschaften ist heute für die Theologie unverzichtbar, insofern uns die Naturwissenschaften über die Beschaffenheit der Welt informieren, von der wir glauben, dass sie von Gott geschaffen ist und mit Gott in Beziehung steht.

Downloads:

  1. Leeb, Matthias: Naturalismus und Theologie. Der Versuch einer Abgrenzung und kritischen Würdigung, Diplomarbeit Wien 2003
  2. Leeb, Matthias: Naturalismus als Deutung der Welt ohne Gott - ein Ergebnis europäischer Geistesgeschichte?, Vortrag beim Intensive Program "Gottdenken in Europa heute – Theologie im globalen Dialog" Wien 2003

Literatur:
Cobb, John B./Griffin David R.: Prozess-Theologie. Eine einführende Darstellung, Göttingen 1979
Esterbauer, Reinhold: Verlorene Zeit – wider eine Einheitswissenschaft von Natur und Gott, Stuttgart 1996
Keil, Geert: Kritik des Naturalismus, Berlin 1993
Keil, Geert/Schnädelbach, Herbert (Hg.): Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt am Main 2000
Löffler, Winfried: Naturalisierungsprogramme und ihre methodologischen Grenzen, in: Quitterer, Josef/Runggaldier, Edmund (Hg.): Der neue Naturalismus. Eine Herausforderung an das christliche Menschenbild, Stuttgart 1999
Moltmann, Jürgen: Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985
Moltmann, Jürgen: Wissenschaft und Weisheit. Zum Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Gütersloh 2002
Mortensen, Viggo: Theologie und Naturwissenschaft, Gütersloh 1995
Popper, Karl: Der Materialismus überwindet sich selbst, in: Popper, Karl/Eccles, John: Das Ich und sein Gehirn, Heidelberg 61997
Sölle, Dorothee: Gott denken / Einführung in die Theologie, München 1997
Vollmer, Gerhard: Was ist Naturalismus?, in: Keil, Geert/Schnädelbach, Herbert (Hg.): Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt am Main 2000

veröffentlicht am 20.05.2013